Kinder brauchen Zeit für sich

Kleiner Junge rennt laut rufend durch den Schnee

3. Januar 2020 / Comments (0)

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Unverplante, selbstbestimmte Zeit wird immer seltener im heutigen Kinderalltag. Doch genau die braucht ein Kind: um sich und sein Umfeld in Ruhe kennenzulernen, Beziehungen zu Mensch, Natur und Gegenständen aufzubauen, Selbstständigkeit zu entwickeln und sich einen Platz in seiner Lebenswelt einzurichten. Dies betonen zwei renommierte Experten in Fachartikeln.

Der Sozialpädagoge und Wissenschaftsdozent Professor Dr. Armin Krenz plädiert „für eine entschleunigte Kindheit“. Auch der Kinderarzt und Wissenschaftler Dr. Herbert Renz-Polster betont, dass freies, ungeleitetes Spiel für Kinder unverzichtbar sei, damit sie sich zu selbstständigen Menschen entwickeln können.

Durchgetaktet und arrangiert

Sowohl im Elternhaus als auch in der Kita erfahren Kinder oft eine getaktete Tagesstruktur, die die Zeiträume für freies Spiel einschränkt. Ursachen dafür sieht Krenz in Prozessen des technischen und gesellschaftlichen Wandels sowie der wachsenden Betonung frühkindlicher Bildung. Kinder unterliegen demnach häufiger als früher Zeitrhythmen, die sie nicht selbst bestimmen können.

Krenz nennt Zeit „eines der 6 seelischen Grundbedürfnisse des Kindes“, eine „äußerst wichtige Ressource“ für die Persönlichkeitsbildung. Wo sie nicht zur Verfügung steht, sieht der Autor einen Zusammenhang mit Verhaltensauffälligkeiten und psychosomatischen Erkrankungen. Er beruft sich hierbei auf neurowissenschaftliche Erkenntnisse und bemängelt, dass auffällige Kinder als „veränderungswürdige Symptomträger“ stärker in den Fokus geraten als mögliche strukturelle oder institutionsbedingte Ursachen.

Künstliche Erfahrungsräume versus freies Entdecken und Gestalten

Viele „Zeitdiebe“ für Kinder sind offensichtlich: So reißen Erwachsen sie beispielsweise oft aus dem Spiel heraus, um Termine einzuhalten. Doch Krenz kritisiert vor allem subtilere Eingrenzungen von Kinderräumen: Erwachsene bieten Kindern heute oft künstlich arrangierte Erfahrungsräume an, die mit festen Erwartungen verbunden oder auf eine bestimmte Funktionalität ausgerichtet sind. Das Ganze geschieht zudem in vorher festgelegten Zeiteinheiten.

Auch Renz-Polster beschreibt in einem Fachartikel das „frei gestaltete kindliche Spiel“ als elementar für den Aufbau von Grundkompetenzen: „Für die spielerische Entwicklungsbewältigung suchen sich Kinder – wenn sie können – einen adäquaten, und das heißt möglichst wenig strukturierten und damit gestaltbaren Entdeckungs- und Gestaltungsraum.“ Er betont, dass Kinder die fundamentalen Entwicklungskompetenzen, die sie für ein selbstständiges Leben brauchen, selbst aufbauen müssten. Man könne diese weder anerziehen noch didaktisch vermitteln, sondern dieses Lernen beruhe „auf einem Prozess der Selbstorganisation“.

Entwicklungsbegleitung statt Förderung

Krenz plädiert dafür, „Bildung“ als einen Prozess der Selbstbildung des Kindes zu betrachten und statt „Förderung“ Entwicklungsbegleitung zu betreiben. Er erinnert an Artikel 31 der UN-Kinderrechte-Charta: „Recht des Kindes auf Ruhe und Freizeit sowie auf Spiel und altersgemäße Freizeitbeschäftigung“ und fordert, Kindheit als einen eigenen Entwicklungszeitraum mit besonderen Erfordernissen anzuerkennen. Auch Renz-Polster trat auf dem Stuttgarter Kongress „Invest in Future“ dafür ein, die Kindheit als eigenständige Lebensphase ernstzunehmen. Wie ein Haus, so benötige auch das Leben ein Fundament, um sicher zu stehen: „Dieses Fundament bildet die Kindheit.“

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Foto: Matthew T Rader auf Unsplash