Die Kindheit ist kurz

Kinder beim Ballspielen in der Natur

22. Mai 2020 / Comments (0)

Allgemein News

Kinder brauchen Kinder. Und sie brauchen ein anregungsreiches Umfeld, um sich gut zu entwickeln. Das bieten ihn Kitas, Kindertagespflegestellen und Horte. Sie lösen das Recht der Kinder auf das Spiel mit anderen Kindern, auf Bildung und Förderung ein. Die coronabedingte monatelange Reduktion der Kita-Betreuung, die nur einigen Kindern Zugang gibt, schränkt kindliche Entfaltungsmöglichkeiten ein und bedeutet ein Entwicklungsrisiko für die Mädchen und Jungen. Denn die Kindheit ist kurz. Versäumtes lässt sich nur sehr bedingt nachholen.

Der Deutsche Kitaverband und die Initiative Kinder brauchen Kinder: Petition fordern daher die Politik auf, allen 3,7 Millionen Kita-Kindern in Deutschland Zugang zu Kitabetreuung zu ermöglichen. Sie legen konkrete Vorschläge vor, wie sich dies mit dem Gesundheitsschutz in Corona-Zeiten vereinbaren lässt.

Hier lesen Sie das komplette Positionspapier:

Deutscher Kitaverband und Kinder brauchen Kinder: Petition

Gemeinsames Positionspapier

Die Kindheit ist kurz: warum und wie die Kitas öffnen müssen

Stand: 19.05.2020

Die Perspektive der Kinder

Die Kindheit ist kurz. Sie ist eine eigene Lebensphase: die Zeit der Entwicklung, Erziehung, Sozialisation und Bildung von jungen Menschen. Der Zweck der Entwicklungsförderung ist nicht darin zu suchen, dass die Kinder sich einfügen und passend gemacht werden für eine Umwelt, die Erwachsene geschaffen haben, sondern dass sie ein eigenständiges, auch festgeschriebenes Recht auf ihre Bedürfnisse, Ziele und ihre Selbstverwirklichung haben. Und auf diese Art und Weise hoffentlich neue Ideen in die Welt bringen und selbst die Welt gestalten, in der sie zukünftig leben werden.

Allerdings sind Kinder stark davon abhängig, welche Lebensbedingungen Erwachsene ihnen dafür zugestehen. Jeder Tag, den wir den Kindern in ihrer kindgemäßen Weltaneignung nehmen, ist ein Tag weniger in einem endlichen Lebensabschnitt. Kinder entwickeln sich schnell. Einige Monate sind eine entscheidende und lange Zeit in einem Kinderleben.

Kinder brauchen für ihre Sozialisation unabdingbar andere Kinder (#kinderbrauchenkinder). Sie müssen gemeinsam mit ihnen auf Erkundung gehen, in ihrer Sprache die Dinge ausdiskutieren, eigene Maßstäbe entwickeln, sich an anderen Kindern der nächstliegenden Entwicklungsstufe orientieren, in Rollenspielen unterschiedliche Ideen und Erlebnisse voneinander erfahren und im Spiel verarbeiten, sich messen ohne Erwachsenenmaßstäben gerecht werden zu müssen. Das können Eltern also gar nicht leisten.

Kinder brauchen eine vielfältig anregende Umgebung, die ihre Neugier und ihren Forscherdrang anregt. Sie brauchen unterschiedliche Erwachsene verschiedener Geschlechter, welche ihnen vor dem Hintergrund ihrer individuellen Lebenserfahrung Rollenvorbilder sein können und in unterschiedlichsten Themenbereichen begeistert die Welt nahebringen und sie mit ihnen erkunden. Sie brauchen eine anregende sprachliche Umgebung und Platz für ausreichend Bewegung drinnen und draußen. Dies alles können digitale Angebote nicht annähernd leisten. Auch ohne Eltern unterstellen zu wollen, dass sie nicht in der Lage seien, ihren Kindern eine gute Umgebung zu schaffen, wird sich diese Umgebung, neben Homeoffice, eingeschränkten privaten Kontakten, (teil)geschlossenen Spielplätzen, Parks, Zoos, Sportvereinen, etc. doch sehr auf das Spiel alleine oder mit Geschwistern im Kinderzimmer beschränken, in glücklichen Fällen vielleicht noch im Garten.

Zudem gibt es noch die tatsächlich schutzbedürftigen Kinder, die darauf angewiesen sind, dass wir als Gesellschaft auf sie achten, sie sichern und besonders umsorgen und fördern. Diese Kinder geraten uns aus dem Blick. Wir wissen, dass sie in schwierigen häuslichen Verhältnissen leben und diesen momentan ausschließlich, intensiv und schutzlos ausgeliefert sind und können und dürfen das nicht hinnehmen. Sie müssen sofort wieder in ihre Einrichtungen kommen können.

Wir machen uns nicht darüber Gedanken, ob oder welche ausgewählten Kinder wieder in die Kitas und Schulen zurückkommen sollten, sondern darum, wie wir es allen Kindern ermöglichen können, wenigstens zeitweise wieder an diesem für sie so wichtigen Sozialisations- und Lernraum sowie freudigem, freiem, kindgerechten Aufenthaltsort sein zu können: Kita, Tagespflege und Hort.

Kohorten-Modell

Deshalb müssen wir jetzt eine pädagogische Perspektive und einen Zugang zu frühkindlicher Bildung für alle 3,7 Millionen Kita-Kinder finden. Richtschnur sollte dabei die regionale Zahl der Neuinfizierten sein. Alle Stakeholder in der Kinder- und Jugendhilfe sind dazu aufgerufen, Ideen für einen kindgerechten Rahmen der pädagogischen Arbeit unter den Bedingungen der Corona-Krise zu entwickeln.

Das Deutsche Institut für Wirtschaft und 92 Bildungsökonom*innen fordern umfassende Maßnahmen, um den Zugang zu frühkindlicher und schulischer Bildung in der momentanen Krisensituation sicherzustellen. Sie warnen vor möglichen Spätfolgen: Bildungsungleichheiten könnten steigen. Demnach sollte ein Kita- und Schulbesuch für alle Gruppen zumindest zeitweise wieder möglich sein. Eine klare Kommunikation sei erforderlich, um Unsicherheit zu reduzieren.

Das ist auch unser Standpunkt: Die Kommunikation muss sich ändern. Wir müssen Sorgen und Ängste von Eltern und Erzieher*innen aufgreifen, aber auch aufklären. Bestehende virologische Erkenntnisse müssen dem Kita-System zur Verfügung gestellt werden. Beispiel Norwegen: Trotz der dortigen Öffnungen der Kindergärten im April bleiben die Infektionszahlen niedrig und wirken sich nicht negativ auf die epidemiologische Situation aus. Es gibt dort keinen Infektionsfall, der von Kindern ausgegangen ist.

Im Wissen darüber, dass vor allem junge Kinder körperliche Nähe, Emotionalität, sinnliche Erfahrungsmöglichkeiten, Gestik, Mimik, nonverbale und visuelle Kommunikation, körperlich raumgreifende Bewegung und selbstvergessenes, vertieftes Spiel in ihrem kindlichen Sein benötigen, schließen sich das Tragen von Gesichtsmasken oder das Einhalten des Mindestabstands aus.

Daher empfehlen wir momentan einen eingeschränkten Regelbetrieb mit einer vorläufig 50 prozentigen Belegung der regulären Plätze einer Kita. Das heißt: mindestens die Hälfte der Kinder einer Einrichtung kann gleichzeitig anwesend sein. Die Belegung der Einrichtung ist für die Träger dann planbar und berücksichtigt deren räumliche Möglichkeiten. Sollten ausreichend räumliche und personelle Kapazitäten vorhanden sein, sollten die Kita-Träger in eigenem Ermessen auch mehr Kinder gleichzeitig betreuen können. Vor allem bei Einrichtungen mit großzügigem Außenbereich ist dies anwendbar. Der Aufenthalt der Kita-Gruppen im Freien ist nicht nur aus epidemiologischer Sicht zu fördern.

Wir empfehlen für die Kitas außerdem ein Modell mit festen, voneinander getrennten Kleingruppen altersähnlicher Kinder (sog. Kohorten-Modell) mit maximal fünf Krippenkindern oder zehn Kindergartenkindern und zwei Erzieher*innen. Jede Kohorte schafft sich in ihrem ausreichend großen Bereich (mindestens doppelt so viel Raum für die Anzahl von Kindern wie vor der Pandemie) ihre anregungsreiche Umgebung, in der sie fest verbleibt. Gemeinschafts- und Hygieneflächen werden abwechselnd genutzt, Desinfektion von Flächen erfolgt mehrmals täglich. Wie viele Kinder wie häufig in der Einrichtung sein können, hängt stark von den individuellen Gegebenheiten ab. Wichtig ist, dass alle Kinder in regelmäßigen Abständen die Gelegenheit haben mit ihren Freunden zusammenzutreffen, den Bezug zu ihren Betreuer*innen aufrechtzuerhalten, an vielfältig anregenden Impulsen für ihr Spiel und ihre Entwicklung teilzuhaben.

Das Kohorten-Modell plus ein „rollierendes System“ ermöglicht es, möglichst vielen Familien ein Betreuungsangebot zu machen und trotzdem dem Infektionsschutz gerecht zu werden. Wichtig ist, dass vor Ort eine individuelle Lösungsfindung mit den Eltern getroffen werden kann. Denkbar ist eine Art Schichtsystem bei dem die Hälfte der Kinder zum Beispiel Montag und Dienstag sowie die andere Hälfte der Kinder Mittwoch und Donnerstag abwechselnd in die Einrichtung kommen. Die Kinder, die in Notbetreuung waren, werden weiterhin dauerhaft betreut.

Infektionsschutz

Es ist durchaus möglich, den Kita-Alltag im Sinne des Kindeswohls und unter Einhaltung des Pandemie-Schutzes zu gestalten. Kita-Öffnungen können unter strengem gesundheitlichen Monitoring geschehen: Um das Ansteckungsrisiko in der Kita möglichst gering zu halten, ist es wichtig, dass die Kinder möglichst sicher unter keiner Covid19-Infektion leiden. Da die Unterscheidung zu anderen Grippe- oder grippeähnlichen Erkrankungen nur schwer zu treffen ist, benötigen wir eine einfache Regelung. Wenn ein Kind am reduzierten Regelbetrieb teilnehmen möchte, müssen die Erziehungsberechtigten bestätigen, dass seit mindestens 48 Stunden keines der Mitglieder im Haushalt des Kindes erhöhte Temperatur oder Fieber (mehr als 37,5 Grad) hat, oder unter Husten oder Atemnot leidet. Innerhalb der letzten 14 Tage darf auch kein Kontakt zu einer auf Corona positiv getesteten Person bestanden haben. Ferner muss die schriftliche Zusicherung vorliegen, dass sobald eines der Symptome auftritt, die Eltern die Kita informieren und ihr Kind von dem reduzierten Regelbetrieb abmelden bis alle Haushaltsmitglieder wieder mindestens 48 Stunden symptomfrei sind. Bei Nichteinhalten dieser Regelung sollen Kinder konsequent vom weiteren Besuch der Kita ausgeschlossen werden.

Darüber hinaus sollen der genaue Zeitraum des Besuches und die Dauer der Anwesenheit der Erziehungsberechtigten in der Einrichtung festgehalten werden. Dies ermöglicht im schlimmsten Falle ein genaues Nachvollziehen der erfolgten Kontakte.

Die Politik muss dafür sorgen, dass Testkapazitäten gezielt im Kita-Umfeld zum Einsatz kommen. Die Testverfahren sollten zeitnah und zahlreich zur Verfügung stehen. Der Testung von Kita-Mitarbeiter*innen sollte derselbe Stellenwert zugeschrieben werden wie der Testung von Mitarbeiter*innen in Pflegeheimen und im Krankenhaus, da Erzieher*innen selbst systemrelevant sind. Zudem sollte aufgrund der geringen Datenbasis eine wissenschaftliche Begleit-Evaluation an einzelnen Modell-Kitas durchgeführt werden.

Die Kita-Träger sollten im Umfeld der Kinder, bei den Mitarbeiter*innen, usw. dafür werben, die Corona-Tracing-App zu verwenden, sobald diese verfügbar ist, um die Eindämmung des Corona-Virus zu verbessern.

Gesellschaftspolitische Implikation

Die Folgen der Kita-Schließungen für die Kinder, die Eltern, den Staat und die Wirtschaft sowie für die Träger der Einrichtungen einschließlich deren Mitarbeiter*innen sind mittlerweile zum Glück Gegenstand einer breiten öffentlichen Debatte. Initiativen bilden sich, denn Eltern und Familien, die ihren beruflichen Aufgaben im Homeoffice nachkommen und zugleich für die Betreuung der Kinder sorgen sollen, sind überlastet. Dennoch scheinen Kinder und Familien in Deutschland, anders als zum Beispiel in Skandinavien, keine große Lobby zu haben.

Im Moment riskieren wir, dass die Corona-Krise die Gesellschaft in der Frage nach Vereinbarung von Familie und Beruf um Jahrzehnte zurückwirft. Leidtragende sind überwiegend die Frauen. Um Frauen zu entlasten, die schon vor der Coronakrise deutlich mehr Care-Arbeit leisteten als Männer, ist es dringend nötig, schnell möglichst vielen Familien eine Kitabetreuung anbieten zu können. 46 Prozent aller Frauen mit Kindern unter sechs Jahren im Haushalt sind schon jetzt nicht berufstätig, in Dänemark bleibt nur ein Drittel der Frauen zuhause. Die Politik scheint das nicht im Fokus zu haben. Kirchen, Biergärten, Geschäfte und Fitnessstudios können öffnen. Kitas dürfen vielerorts weiterhin nur geringfügig mehr Kinder aufnehmen. Während der Wirtschaft konkret geholfen wird, wird für Familien wenig unternommen.

Die Argumente, warum wir die Kitas weiter öffnen müssen, sind also zahlreich. Wege, wie die Öffnung gelingt, haben wir aufgezeigt. Wir fordern die Politik deshalb zum Handeln auf.

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